Die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft ist in der Pflege unverzichtbar. Aber arbeitsrechtliche Vorschriften bei der Betreuung in häuslicher Gemeinschaft werden massiv unterschätzt. Schätzungsweise 90 Prozent aller Betreuungsverhältnisse verstoßen gegen arbeitsrechtliche Bestimmungen, was für Senioren und deren Angehörige erhebliche Risiken birgt.
Von Stefan Lux, Geschäftsführer der SHD Seniorenhilfe Dortmund
Die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft ist in der Pflege unverzichtbar geworden. Schätzungsweise 300.000 Haushalte nutzen bereits die Dienste überwiegend osteuropäischer Betreuungskräfte. Was als pragmatische Lösung für die Herausforderungen der alternden Gesellschaft begann, entpuppt sich jedoch als rechtliches Minenfeld mit weitreichenden Konsequenzen für alle Beteiligten. Schätzungsweise 90 Prozent aller Betreuungsverhältnisse verstoßen gegen arbeitsrechtliche Bestimmungen, was für Senioren und deren Angehörige erhebliche Risiken birgt. Seit dem wegweisenden Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2021 haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen grundlegend verschärft und das klassische Arbeitnehmermodell faktisch unmöglich gemacht. Während gleichzeitig die Kontrollen durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit zunehmen, drohen Bußgelder bis zu 500.000 Euro, Freiheitsstrafen und rückwirkende Sozialversicherungsnachforderungen.
Das Bulgarien-Urteil als Wendepunkt: Arbeitsrechtliche Vorschriften bei der Betreuung in häuslicher Gemeinschaft
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 24. Juni 2021 markiert einen fundamentalen Paradigmenwechsel in der Betreuung in häuslicher Gemeinschaft. Das Gericht stellte eindeutig fest, dass auch bei der häuslichen Betreuung der gesetzliche Mindestlohn zu zahlen ist. Das gilt nicht nur für die aktive Arbeitszeit, sondern auch für Bereitschaftszeiten. Dies betrifft alle Zeiten, in denen sich die Betreuungskraft im Haushalt aufhalten muss und bei Bedarf zur Verfügung stehen soll. Die praktischen Konsequenzen sind dramatisch: Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg sprach einer bulgarischen Betreuungskraft, die formal nur 30 Stunden pro Woche arbeiten sollte, Mindestlohn für 21 Stunden täglich zu. Dies entspricht einem Nachzahlungsanspruch von knapp 39.000 Euro.
Diese Entscheidung macht deutlich, warum das klassische Arbeitnehmermodell in der Live-In-Betreuung praktisch nicht mehr anwendbar ist. Das zentrale Problem liegt in der Definition der Bereitschaftszeit. Sobald die Betreuungskraft in den Haushalt einzieht und dort übernachtet, gilt bereits diese Anwesenheit als vergütungspflichtige Bereitschaftszeit. Wie viele Betreuungssituationen gibt es, in denen eine Betreuungskraft nicht doch einmal außerhalb der üblichen Arbeitszeit nachts aufstehen muss, um zu helfen? Diese Realität macht eine rechtskonforme Umsetzung des Arbeitnehmermodells praktisch unmöglich.
Auch eine Einordnung des Gutachtens von Professor Gregor Thüsing erfordert eine Betrachtung des politischen Kontexts. Der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) beauftragte 2019 den Bonner Arbeitsrechtler mit der Prüfung der rechtlichen Situation der häuslichen Betreuung. Das Ergebnis des Gutachtens stieß beim SPD-geführten und gewerkschaftsnahen Arbeitsministerium auf deutliche Ablehnung. Professor Thüsing zählt in seinem Gutachten zwar die Risiken der Selbständigkeit auf, spricht sich aber gegen das Arbeitnehmermodell aus, weil es im aktuellen Rechtssystem nicht funktioniert. Seine zentrale Aussage lautet: Eine selbständige Tätigkeit in der 24-Stunden-Betreuung ist nach den Vorgaben der Rechtsprechung möglich – „wenn auch oftmals nicht rechtssicher“. Gleichzeitig plädiert er für die Aufnahme der Betreuungskräfte in die Sozialversicherung als „arbeitnehmerähnliche Selbständige“, eine Forderung, die der Bundesverband für häusliche Betreuung und Pflege e.V. (VHBP) seit Jahren vertritt.
Praktikable Alternativen: Selbständigkeit und Entsendung
Neben der Entsendung von freien Mitarbeitern aus dem Ausland – nicht von Angestellten – ist die Selbständigkeit das einzige Modell, mit dem eine rechtskonforme Situation hergestellt werden kann. Das wichtigste Kriterium zur Verhinderung einer Scheinselbstständigkeit ist die Weisungsungebundenheit. Die VHBP-Standards definieren präzise Kriterien für eine rechtskonforme Selbständigkeit. Die Betreuungsperson muss über unternehmerische Entscheidungsfreiheit verfügen, darf nicht in eine fremde Arbeitsorganisation eingebunden sein und muss das wirtschaftliche Risiko tragen. Entscheidend ist, dass sie frei bezüglich Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer, Art und Ort der Tätigkeit entscheidet – der Auftraggeber äußert allenfalls Wünsche. Bei der Entsendung aus Polen kommen überwiegend freie Mitarbeiter zum Einsatz, nicht Angestellte. Diese werden als Subunternehmer oder im Auftragsverhältnis entsandt. Das polnische Recht kennt bereits ein Modell „arbeitnehmerähnlicher Selbständiger“, das als Vorbild dienen könnte.
Der Weg zur rechtssicheren Lösung: Arbeitnehmerähnlichkeit
Die Risiken bei Rechtsverstößen haben sich dramatisch erhöht. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls führt regelmäßig Kontrollen durch und hat 2022 allein bei ambulanten Pflegediensten und Vermittlungsagenturen 27 Strafverfahren eingeleitet. Kontrollen finden mittlerweile auch außerhalb der Wohnung statt, wie ein Fall am Münchener Isarhochufer zeigt. Bei nachgewiesener Schwarzarbeit drohen Bußgelder bis zu 500.000 Euro und Freiheitsstrafen bis zu zehn Jahren. Sozialversicherungsbeiträge müssen für bis zu vier Jahre rückwirkend nachgezahlt werden – sowohl Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmeranteil. Dies kann zu finanziellen Belastungen führen, die den vermeintlichen Kostenvorteil illegaler Beschäftigung bei weitem übersteigen.
Die Lösung liegt in der Schaffung rechtssicherer Rahmenbedingungen für „arbeitnehmerähnliche Selbständige“ in der Betreuung. Der VHBP fordert seit Jahren, dass Betreuungspersonen als arbeitnehmerähnlich im Sinne des § 2 SGB VI anerkannt werden. Diese Regelung existiert bereits für Millionen andere Beschäftigte wie Solo-Selbständige, feste freie Mitarbeiter von Rundfunkanstalten oder Heimarbeiter. Arbeitnehmerähnlichkeit bedeutet, dass Betreuungspersonen einerseits unternehmerisch selbständig arbeiten, andererseits aber als so schutzbedürftig gelten, dass sie gesetzlich sozialversichert sind und Anspruch auf arbeitsrechtliche Mindestabsicherung haben. Dies würde eine flexible Arbeitszeitgestaltung für Menschen ermöglichen, deren Hilfebedarf nur grob planbar ist und sich kurzfristig wandelt.
Präventive Maßnahmen und Zukunftsaussichten
Die rechtspolitische Diskussion hat sich intensiviert. Der neue Bericht „Rechtssichere Live-In-Betreuung“ der Arbeitsgruppe aus dem Bundesministerium für Gesundheit, dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und der Geschäftsstelle der Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung zeigt Wege zur rechtssicheren Live-In-Betreuung auf. Die Erkenntnis setzt sich durch: Wer sich informiert, klare Verträge abschließt und arbeitsrechtliche Standards achtet, sorgt nicht nur für den Schutz der Betreuungskraft, sondern auch für den dauerhaften Bestand eines wertvollen Betreuungsmodells. Das Bundesarbeitsgericht hat klargestellt, dass auch Bereitschaftsdienstzeit mit dem vollen Mindestlohn zu vergüten ist. Diese Rechtsprechung macht deutlich: „Es ist nicht alles damit getan, was im Arbeitsvertrag steht. Entscheidend ist, wie viel tatsächlich gearbeitet wird“.
Familien sollten ausschließlich mit seriösen Agenturen zusammenarbeiten, die nachweislich rechtskonforme Betreuungsmodelle anbieten. Warnsignale sind unrealistisch niedrige Preise, fehlende Verträge oder die Weigerung, Nachweise über die ordnungsgemäße rechtliche Gestaltung zu erbringen. Die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft ist zur unverzichtbaren dritten Säule der Versorgung von Pflegebedürftigen geworden. Sie muss für die Mitte der Gesellschaft bezahlbar bleiben, benötigt aber dringend einen angemessenen rechtlichen Rahmen. Die Zeit der Unwissenheit ist vorbei. Wer heute noch auf rechtlich fragwürdige Betreuungsmodelle setzt, riskiert nicht nur hohe Strafen, sondern gefährdet auch die Zukunft einer gesellschaftlich unverzichtbaren Versorgungsform.